„Das heutige Europa ohne Mauern und ohne Schranken ist ein Schatz, den die Deutschen und Polen zu bewahren haben“: Bericht vom 28. Jahreskongress der Deutsch-Polnischen Gesellschaften

Vom 24. bis 27. Oktober 2019 fand der 28. Jahreskongress der Deutsch-Polnischen Gesellschaften (kurz DPG) im saarländischen Homburg statt. Der Kongress stand unter dem Motto „Nachbarschaft in der Mitte Europas“. Es scheint für mich das Jahr der Nachbarschaft zu werden, nachdem ich bereits im Juni das Jahrbuch Polen 2019 des Deutschen Polen-Instituts mit dem Thema „Nachbarn“ rezensieren durfte. Getagt wurde im Landratsamt und Schlossberg Hotel. Von Donnerstag bis Sonntag standen Programmpunkte an, doch sowohl aus beruflichen als auch privaten Gründen konnte ich erst am Freitag anreisen und nicht alle Programmpunkte am Samstag miterleben. Am Sonntag fand abschließend die Jahresmitgliederversammlung der Deutsch-Polnischen Gesellschaften statt.

Rahmenprogramm: Bartoszewski-Ausstellung

Der Vollständigkeit und Chronologie halber seien die Programmpunkte des Donnerstags dennoch kurz skizziert: Der gesamte Abend widmete sich der

Ausstellung „Władysław Bartoszewski (1922-2015): Widerstand – Erinnerung – Versöhnung“, die am Abend feierlich eröffnet wurde. Władysław Bartoszewski war einer der wichtigsten Widerstandskämpfer gegen das kommunistische Polen und galt bis zu seinem Tod als Brückenbauer für die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen. Zur Begrüßung der Anwesenden sprachen Hans Bollinger als stellvertretender Vorsitzender der DPG Saar und der Landrat des Saarpfalz-Kreises sowie Vorsitzende der DPG Saar Dr. Theophil Gallo. Die Einführung in die Ausstellung gestaltete Kurator Dr. Marcin Barcz.

Die Ausstellung ist im Besitz der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit in Warschau und wurde als Wanderausstellung an die Deutsch-Polnische Gesellschaft Berlin für Deutschland ausgeliehen. Das Landratsamt Homburg (Am Forum 1, 66424 Homburg) ist nun die neunte Station der Wanderausstellung. Zu sehen sind die ausgestellten Werke bis zum 15. November montags bis donnerstags von 8 bis 16.30 Uhr und freitags von 8 bis 15 Uhr. Am Wochenende und an Feiertagen bleibt die Ausstellung geschlossen. Die Ausstellungsstücke sind zweisprachig deutsch und polnisch.

Am Freitag wurden wir Teilnehmer nach erfolgreicher Kongress-Registrierung durch die Bartoszewski-Ausstellung geführt, die in drei Teile – Widerstand, Erinnerung und Versöhnung – gegliedert ist. Wie Dr. Marcin Barcz zu Beginn der Führung korrekt anmerkte, ist es nahezu unmöglich, das Leben eines 93-jährigen in wenigen Tafeln und Texten zusammenzufassen, dennoch erhält man einen ergreifenden Einblick in das Leben Bartoszewskis, angefangen bei seiner Zeit als Soldat der Heimatarmee (Armia Krajowa) und Mitbegründer des Rats für die Unterstützung der Juden (Żegota), seiner Internierung ins Vernichtungslager Auschwitz bis hin zu seinen Tätigkeiten als Botschafter der Republik Polen in Österreich, polnischer Außenminister und außenpolitischer Berater des polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk. Ein Meilenstein im Leben Bartoszewskis war die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 1986. In all seinen Lebensabschnitten begleitete ihn seine Lebensmaxime: „Es lohnt sich, anständig zu sein.“

Wer in und um Homburg lebt oder in der Region zu Besuch ist, dem empfehle ich einen Abstecher zur Bartoszewski-Ausstellung. Im November wird sie auch am Deutschen Polen-Institut in Darmstadt zu sehen und gleich zwei wichtigen Akteuren der deutsch-polnischen Versöhnung und Annäherung gewidmet sein: Władysław Bartoszewski und Karl Dedecius. Im Leben beider Persönlichkeiten gab es zahlreiche Schnittpunkte und sie verband eine enge Freundschaft. Darmstadt gilt zwar als Endstation der Wanderausstellung, mehrere Orte bekundeten jedoch bereits Interesse, weswegen davon auszugehen ist, dass sie auch 2020 zu sehen sein wird.

„Ein Europa ohne Grenzen und Mauern. Was für ein Glück.“

Nachdem alle Gäste ihre Plätze einnahmen und auch die Fotografen vom hochkarätigen Ehrengast Bundesaußenminister Heiko Maas abließen, begann der Kongress um kurz nach 18 Uhr dreisprachig. Mit den Worten „Guten Abend, bonsoir, dobry wieczór. Niestety nie mówię dobrze po polsku“ begrüßte Maria Gutierrez vom Saarländischen Rundfunk die Gäste. Anschließend begrüßte Dr. Theophil Gallo alle Anwesenden und äußerte seine Freude und Erleichterung darüber, dass Heiko Maas die Einladung „trotz der aktuellen angespannten Situation“ annahm. In seiner Ansprache stellte der Bundesaußenminister erstaunt fest, dass er als hiesiger Politiker zwar zu mannigfaltigen Themen Reden gehalten, jedoch noch nie im Saarland über die deutsch-polnische Freundschaft gesprochen habe. Im Saarland wird eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit gelebt, in erster Linie mit den französischen und luxemburgischen Nachbarn. Polnische Gäste bilden im Saarland eher die Ausnahme. Die deutsch-polnischen Beziehungen seien aber nicht nur angesichts der aktuellen politischen Situation entscheidend, sondern von weitschweifiger Wichtigkeit. Maas verglich Europa mit einem Mehrfamilienhaus, wo eine funktionierende Nachbarschaft essenziell ist. Und wenn Großbritannien auszieht, nimmt Polen eine für Europa umso wichtigere Stellung ein.

Nicht nur in der Europaregion Saar-Lor-Lux zerfließen die Grenzen. Der Bundesaußenminister konnte sich davon ebenso in der deutsch-polnischen Grenzregion um Frankfurt an der Oder überzeugen – so wie die Polen.pl-Redaktion bei Ihrem jährlichen Redaktionsmeeting im September dieses Jahres. Frankfurt und Słubice sehen sich als Doppelstadt ohne Grenzen. „Bez granic“ wiederholte Maas mit nachdenklicher Stimme. „Ein Europa ohne Grenzen und Mauern. Was für ein Glück“, fügte er hinzu.

Für seine Aussage „Das heutige Europa ohne Mauern und ohne Schranken ist ein Schatz, den die Deutschen und Polen zu bewahren haben“ erhielt er tosenden Applaus. Das was den jüngeren Generationen als selbstverständlich erscheint, ist das Ergebnis der tatkräftigen und mutigen Mittel- und Osteuropäer von 1989: Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Es ist ein Geschenk an die jungen Europäer, die ein mit Grenzen und Mauern durchzogenes Europa gar nicht kennen. Doch nur weil es immer so gewesen sei, heißt es nicht, dass es auch immer so bleiben werde. Heute gebe es eine laute und gut organisierte Minderheit, die vieles davon infrage stelle. Diese aggressive und feindliche Minderheit wirke aber nur so laut, weil die demokratische Mehrheit zu leise sei. Wir haben den Lautstärkeregler in der Hand.

Für die deutsch-polnische Verständigung seien organisierte als auch individuelle Handlungen von Nöten. Maas dankte in diesem Sinne den Deutsch-Polnischen Gesellschaften und der diesjährigen Preisträgerin des Dialog-Preises Prof. Dr. Anna Wolff-Powęska für ihr engagiertes Eintreten. Aber auch regionale und städtische Partnerschaften und Austäusche sind ein geeignetes Mittel zur Förderung der sprachlichen und kulturellen Völkerverständigung. Darauf kam die nächsten beiden Redner zu sprechen: die saarländische Ministerin für Bildung und Kultur Christine Streichert-Clivot und der Vizemarschall der Woiwodschaft Karpatenvorland Piotr Pilch. Dietmar Nietan, Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bundesverband, griff die Worte Maas‘ auf: Für eine bessere Verständigung zwischen Deutschen und Polen brauche es Übersetzer, die die eigene Kultur erklären und dem Gegenüber näherbringen. Erst dann könne man sich auf Augenhöhe begegnen, sich einander erklären und verstehen. So eine Übersetzerin ist Prof. Dr. Anna Wolff-Powęska.

Verleihung des Dialog-Preises 2019

Die der Verleihung des Dialog-Preises vorangehende Ansprache verlas Dr. Rita Süßmuth, Präsidentin des Deutschen Bundestags a.D., die Laudatio wurde vom Preisträger des Dialog-Preises 2013 Adam Krzemiński gehalten. Beide Vorredner, aber auch die Preisträgerin selbst, waren sich einig: Es braucht mehr Dialoge. Es gehe dabei nicht darum, dass Errungene zu bewahren, sondern der Gefahr des Rückschritts zu trotzen. „Ich hätte nie gedacht, dass wir so weit zurückfallen, wie wir momentan zurückfallen“, sagte Dr. Rita Süßmuth. Dabei seien nicht nur die Politiker gefragt, sondern alle Bevölkerungsschichten: „Denken Sie nicht ‚Die da oben wissen schon was sie machen‘, denn die suchen auch.“ Prof. Dr. Anna Wolff-Powęska sieht im Dialog einen fundamentalen Wert zur Schaffung eines Weltfriedens, was aber angesichts der aktuellen Tendenzen zu einer immer größeren Herausforderung werde. Der Dialog fürchte jedoch Grenzen nicht. Man dürfe nicht denken, dass bereits alles erreicht wurde. Der Dialog sei nie vollendet, kann aber auch nicht erzwungen werden. Für einen Dialog auf Augenhöhe brauche es Sachlichkeit, Vertrauen, ein gewisses pädagogisches, psychologisches und moralisches Grundwissen und eine aufrichtige Haltung. Hierfür brauche es Menschen und Organisationen, die als Brückenbauer die ersten Schritte machen. Man dürfe hitzige Diskussionen und Streitgespräche nicht scheuen, denn ein Streit unter echten Freunden dürfe trotz aller Turbulenzen nie zur Spaltung führen, sondern sie einander näherbringen. Bei Diskussionen gehe es nicht darum, als Sieger hervorzugehen, sondern darum, gemeinsam zu wirken.

Debatten am zweiten Kongresstag

Nach diesen tiefgehenden politischen Grundsatzreden begann der zweite Kongresstag zunächst ein wenig unbeschwerter. Der stellvertretende Vorsitzende der DPG Saar feierte seinen 70. Geburtstag und fast instinktiv entschloss sich der gesamte Saal dazu, klatschend aufzustehen und den polnischen Geburtstagsliedklassiker „Sto lat“ zum Besten zu geben.

Die nachfolgenden kontrovers geführten Diskussionsrunden zum Rechtsruck in Europa und zur Rolle Frankreichs, Deutschlands und Polens als modernes Weimarer Dreieck knüpften an die Aussagen des Vorabends an. Die polnische Demokratie sei im Vergleich zur deutschen deutlich jünger, dennoch stehen alle Staaten heute vor ähnlichen Herausforderungen. Die gestrige Aussage, dass der Dialog nie vollendet sei, wurde heute auf die Demokratie umgemünzt: Demokratie sei nie fertig. Wir leben in einer Ära des Demokratiezweifels und offiziell proklamierten Antimultilateralismus. Orbán und Kaczyński seien Vertreter einer neuen illiberalen Demokratie, was durchaus Grund zur Sorge sei und als Bedrohung der repräsentativen Demokratie gewertet werden müsse. Polnische Politiker, seien es regierende oder oppositionelle, würden in lediglich zwei Kategorien denken: eins oder null, schwarz oder weiß, Freund oder Feind. In den aktuellen politischen Debatten gehe es nicht darum, einen funktionierenden Dialog zu führen, der darauf abzielt, gemeinsam zu wirken und sich einander näherzubringen. Mit Biegen und Brechen werde nur ein Ziel verfolgt: den anderen zu besiegen. Es fehle in Polen eine wirkliche parlamentarische Opposition sowie eine demokratische pluralistische Kultur. Kritisiert wurden jedoch nicht nur die Politiker, sondern auch die fehlenden bildungspolitischen Maßnahmen, um der frustrierten Gesellschaft, die vornehmlich in ländlicheren Gebieten lebe und nicht wisse, was „Politik“ und „Demokratie“ bedeute. Häufig fehle auch das Interesse, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Eine Dame aus dem Publikum fasste das Wahlverhalten zusammen: „Diese Menschen schauen nur, was im Portemonnaie landet. Und solange es von Jahr zu Jahr mehr Sozialhilfe geben wird und mehr Geld bei den Menschen ankommt, wird sich politisch nichts ändern.“

Auch die Kirche wurde nicht verschont: Seit dem Zweiten Weltkrieg nutzten die Vertreter der katholischen Kirche ihre Einflussmöglichkeiten, um der breiten Bevölkerung eine Stimme zu geben und auch die Opposition zu stützen. Auch in der Versöhnung Deutschlands und Polens waren die sogenannten „Botschaften der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder“ von richtungsweisender Wichtigkeit. Heute enttäusche die Kirche aber auf ganze Linie. Entweder sie halte sich schweigend zurück oder schüre Hass und befeuere gar feindliche Auseinandersetzungen. Die Illusion eines modernen, politisch stabilisierenden Weimarer Dreiecks mit Frankreich als Zweig ins südwestliche Europa, Deutschland als starker Vertreter Zentraleuropas und Polen als Brücke nach Mittel- und Osteuropa bleibe angesichts der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten ein romantischer Traum.

Fazit: eine lebensnahe und lebhafte Tagung

Die Tagung „Nachbarschaft in der Mitte Europas“ war keine von utopischem Wunschdenken geprägte Veranstaltung, die ein romantisiertes Bild der deutsch-polnischen Nachbarschaft zeichnete. Ganz im Gegenteil: Es wurde heftig debattiert, offen seine Meinung kundgetan, die Äußerungen anderer Teilnehmer gehört und die Situation kritisch begutachtet. Eine aus Polen angereiste Teilnehmerin äußerte ihr Wohlgefallen an der Diskussionskultur wie folgt: „Ich hatte so Angst, hierher zu reisen, da ich dachte, dass die Deutschen als Oberlehrer mit erhobenem Zeigefinger den Polen befehlen werden, was zu tun ist. Aber nein, hier begegnet man sich auf Augenhöhe und sieht Polen als gleichwertigen Partner. Ganz toll.“