Ein Mann auf der anderen Seite: Marcel Reich-Ranicki

Das Literarische Quartett ist das Synonym für eine Literatur-Fernsehsendung. Diese Sendung lief von 1988 bis 2001 im ZDF und sie wird seit 2015 wieder ausgestrahlt. Aber auch in der Zwischenzeit gab es vereinzelt Sondersendungen. Wer, wie ich, in früher Jugend das erste Mal in eine Litaratursendung schaltete, traf mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Marcel Reich-Ranicki. Mit gewöhnungsbedürftiger Stimme und erheblichem Selbstbewusstsein rezensierte Reich-Ranicki zusammen mit anderen Literaturkritikern Neuerscheinungen am Buchmarkt. Nicht immer verliefen diese Gespräche im Fernsehen ohne Streit.

Für mich war immer Hellmuth Karasek der führende Kopf der Sendung, aber später, so zumindest meine Erinnerung, übernahm Reich-Ranicki diese Rolle. Aus heutiger Sicht wird mir klar: Er hatte sie die ganze Zeit inne, die führende Rolle in dieser für den deutschen Buchmarkt so wichtigen Sendung. Er prägte die Sendung von Beginn an.

Wolke und Weide: Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre

Um so spannender war es für mich, eine Biografie über Marcel Reich-Ranicki zu lesen, die aus der Feder von Gerhard Gnauck stammt. Gnauck, langjähriger Polen-Korrespondent der WELT und nun der Frankfurter Allgemeinen Zeitung versucht anhand der in Polen verbrachten Jahre, den Menschen Reich-Ranicki nahbarer zu machen. Denn: Auch wenn man Reich-Ranicki vieles zuschreiben konnte, Nahbarkeit gehört nicht dazu. “Wolke und Weide – Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre”, so der etwas wolkige Titel (das Wortspielchen musste sein) des Buchs, ist schon etwas älter. Es ist 2009 erschienen und es ist nicht das erste Werk, das Reich-Ranickis Leben beleuchtet. Doch dies sei vorangeschickt: Es ist ein ausgesprochen spannender und lesenswerter Einblick in ein Leben eines Menschen, der viel mehr als nur Literaturkritiker war.

Auch fast zehn Jahre nach seinem Erscheinen ist dieses Buch unbedingt empfehlenswert. Es macht auch Lust auf das neue, so ganz andere Buch des gleichen Verfassers. Es ist unter dem Titel “Polen verstehen: Geschichte, Politik, Gesellschaft” soeben in den Handel gekommen. So manches Thema aus “Wolke und Weide” wurde auch hier wieder aufgenommen. Zum Beispiel der Reich-Ranicki immer wieder begegnende Antisemitismus, der wohl in allen von ihm besuchten Ländern eine Rolle spielt.

Mehr erfahren als vorstellbar

Gnauck beschreibt, wie Reich-Ranicki nach seiner Zeit im Warschauer Ghetto mit Stationen beim inländischen Geheimdienst zu einem der jüngsten Konsulatschefs wird, und zwar in London. Er beschreibt, wie es dem jungen Reich (damals noch ohne Ranicki; denn das „Ranicki“ kommt erst durch einen Geheimdienst-Decknamen hinzu) gelang, bei allen Wendungen der Geschichte immer wieder beruflich erfolgreich zu werden. Auch wenn der Erfolg ihn manchmal viel Mühe kostete. Auch die Rolle seiner Frau Teofila Reich-Ranicki wird immer klarer, je weiter man liest.

Die Charakterisierung Reich-Ranickis als “Karrierist” stammt nicht von Gnauck. Doch lässt sich diese Zuschreibung nach Lektüre des Buchs viel besser verstehen. Staunen wird, wer wie ich, bisher noch nicht viel über die Person Reich-Ranickis wusste und ihn vor allem als mehr oder weniger feinfühligen “Literaturpapst” in Erinnerung hat. Reich–Ranicki hat in den polnischen Jahren, unter anderem im Warschauer Ghetto und versteckt im Unterschlupf in Warschau, in den Londoner Jahren, als geheimdienstnaher Konsul mit luxuriösem Lebensstil, in den kommunistischen Jahren, als Nischensucher in der Literatur und immer wieder – gewollt oder ungewollt – mit der Politik aneinander geratend, mehr erfahren, als viele sich für zehn Leben vorstellen können. Und das hängt natürlich zuvorderst auch mit seiner Religion zusammen. Reich-Ranicki war jüdischen Glaubens.

Kritisch und unbelegt

Einzelseite Wolke und Weide, Gnauck
Geschwärzte Zwischenüberschrift

Vermutlich zu Recht weisen viele Rezensenten des Buchs von Gnauck aus dem Jahr 2009 darauf hin, dass der Autor keine wirklich neuen Tatsachen zum Leben Reich-Ranickis recherchiert hat. Aber dennoch hat er viel recherchiert und profundes zutage gefördert. Wie Puzzleteile legt er die Fakten nebeneinander und fordert den Leser auf, sich selbst ein Bild daraus zu machen.

Manch ein Leser des Buchs stolpert über diesen Ansatz. So finden sich beispielsweise Leserbewertungen bei Amazon, die Gnauck unterstellen, ein schlechtes Licht auf Reich-Ranicki werfen zu wollen. Oder sie legen nahe, Gnauck verschweige Wissen, um nicht als antisemitisch zu gelten. Beides halte ich für deutlich übertrieben. Dennoch: Die Mutmaßungen, dass Reich-Ranicki auch in den dunklen Ecken der Geheimdienstarbeit Erfahrungen sammeln musste oder durfte, liegen der Argumentation des Autors folgend auf der Hand, auch wenn sie nie zu beweisen sein werden. Manche spätere “Glättung” des Lebenslaufs Reich-Ranickis durch diesen selbst lassen Gnauck verstärkt annehmen, dass da doch etwas mehr gewesen sein dürfte.

Dass das Eis, auf dem sich der Autor bewegt, juristisch betrachtet, teilweise etwas dünn ist, ist auch an meinem Buchexemplar zu erkennen: Auf einer Seite ist eine Zeile der Zwischenüberschrift geschwärzt: Hier stand einmal etwas, was so nicht mehr stehen bleiben durfte. Auch detektivisches Hinterleuchten des geschwärzten Textes hat mir den Ursprungstext nicht sichtbar werden lassen, aber darum geht es auch nicht: Deutlich wird, dass vieles im beschriebenen Lebenslauf dieses jüdischen, polnischen Deutschen nicht eindeutig, sondern sehr komplex, verwoben und schwierig ist.

Haifischbecken Literaturszene

Die Konflikte mit der Gruppe 47 sowie die Tätigkeiten für das Literarische Quartett und für renommierte Zeitungen als Literaturkritiker zeigen: Reich-Ranicki war eine öffentliche Person. Und er bewegte sich in diesem Haifischbecken der Literaturszene nicht vom Zufall gesteuert. So jedenfalls erscheint es nach der Lektüre von “Wolke und Weide”. Interessant war für mich vor allem das gespannte Verhältnis zu Menschen, die nach meiner ersten Assoziation eigentlich “vom gleichen Schlage” sein sollten. Etwa ein Karl Dedecius (siehe auch unseren Beitrag vom Redaktionstreffen im Deutschen Polen Institut) oder Władysław Bartoszewski, der gerade auch in diesem Jahr zu Recht viel Aufmerksamkeit erhält (siehe etwa die Bartoszewski-Initiative und deren sehenswerte Ausstellung). Warum dieses Verhältnis so schwierig war, untersucht Gnauck mit Blick auf die Religion und auf das Verhältnis zu Polen. Ebenso betrachtet Gnauck die schwierige Position Reich-Ranickis in Polen, als er schon “Literaturpapst” in Deutschland war.

Nichts kommt aus dem Nichts

Und noch etwas Wichtiges macht Gnauck deutlich; und das ist vielleicht das Wichtigste an diesem Buch. Er macht anhand des Lebenslaufs eines prominenten Literaturkritikers deutlich, dass die aktuellen politischen Entwicklungen nicht aus dem Nichts kommen. Dass die so stabilen Beziehungen und Gesellschaften, die uns noch vor wenigen Jahren so normal erschienen, gar nicht lange so normal waren. Dass ein Lebensweg, wie der von Marcel Reich-Ranicki, geradezu exemplarisch vor Augen führen kann, wie fragil die Zusammenhänge zwischen Religionen, Gesellschaften, Nationen, Schichten und anderen Gruppen sind. Und wie schnell “gut” und “böse” verschwimmen können und wie schwer, nein unmöglich, eine eindeutige Einordnung in Schwarz oder Weiß sein kann.

Auch deshalb ist es schade, dass das biografische Buch in einer günstigen Ausgabe beim Verlag zurzeit vergriffen ist. Trotzdem kann man bei einigen Händlern noch Exemplare der nicht ganz billigen gebundenen Ausgabe erhalten. Es lohnt sich.

Informationen:

Gerhard Gnauck, Wolke und Weide: Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre, 287 Seiten, Verlag Klett-Cotta, ISBN: 978-3608941777, zurzeit vergriffen (gebundene Ausgabe), noch neu bei Händlern erhältlich. (Link zu Amazon) (Link zum Verlag)

Und das neue Buch: Gerhard Gnauck, Polen verstehen: Geschichte, Politik, Gesellschaft, 320 Seiten, Verlag Klett-Cotta, ISBN: 978-3608962963, 9,95 Euro. (Link zu Amazon) (Link zum Verlag)