Ersatzvolk Polen – Warum DDR-Oppositionelle von Polen fasziniert waren

Cover von “Polen – Mein Weg zur Freiheit”. Quelle: fibre Verlag

„Ich suchte mir ein Ersatzvolk und fand es in Polen“, sagt Karin Wolff, Übersetzerin und Lektorin aus Frankfurt/Oder mit faszinierender Lebensgeschichte. Sie und zwölf weitere ehemalige DDR-Oppositionelle kommen in dem von Robert Żurek herausgegebenen Band „Polen – Mein Weg zur Freiheit“ zu Wort. Zahlreiche Bürgerrechtler der DDR wandten auf der Suche nach Freiheit und Inspiration den Blick nach Polen – und fanden dort Kontakte zur Solidarność, schauten sich ab, wie man im Untergrund Flugblätter druckt und fühlten sich, wie nicht nur Karin Wolff schreibt, eher dort zuhause als in der als spießig empfundenen DDR. Zwischen 1972 bis zur Gründung der Solidarność 1980 herrschte Visumsfreiheit zwischen der DDR und Polen, was den Austausch vereinfachte.

Die Vorbildrolle Polens für die ostdeutsche Oppositionsbewegung ist ein bisher vernachlässigtes Thema der deutsch-polnischen Beziehungen im 20. Jahrhundert und teilt damit das Schicksal der ebenfalls vergessenen sog. Polenhilfe der Westdeutschen für die unter dem Kriegsrecht leidenden Polen. Umso erfreulicher, dass Robert Żurek sich dem Thema ausführlich in einem Interviewband widmet, in dem 13 ehemalige Bürgerrechtler sich seinen Fragen stellten. Die Interviewten sind Stephan Bickhardt, Eckart Hübener, Roland Jahn, Ruth Leiserowitz, Friedrich Magirius, Theo Mechtenberg, Markus Meckel, Heimgard Mehlhorn (Ehefrau des 2011 verstorbenen Ludwig Mehlhorn), Heinrich Olschowsky, Wolfgang Templin, Esther-Marie Ullmann-Goertz, Konrad Weiß und Karin Wolff. Die Interviews entstanden überwiegend im Jahr 2011, das Buch erschien Anfang 2016.

Polen als Vorbild für das eigene Handeln

Und warum wurden nun gerade diese 13 Personen befragt? Mit der Auswahl muss sich der Herausgeber wirklich gequält haben, denn – so schreibt er – eigentlich war Polen ja für alle Regimegegner wichtig. Deshalb beschränkte er sich auf diejenigen, für die Polen eine zentrale Bedeutung hatte und die durch ihre Kontakte, häufigen Reisen und teilweise auch Polnischkenntnisse oppositionelle Ideen aus Polen in die DDR trugen.

Die Oppositionsbewegung in der DDR war vor allem christlich verankert, was sich auch bei denjenigen widerspiegelt, die Polen zugewandt waren: Sieben Personen aus dem Umfeld der evangelischen Kirche (die meisten von ihnen Pfarrer) kommen zu Wort sowie zwei Katholiken.

In den Interviews dominiert die Vorbildrolle, die Polen einnahm. Stephan Bickhardt nennt die Erkenntnis, dass das System nicht nur veränderbar ist, sondern bezwingbar, als zentrale Botschaft, die er aus Polen in die DDR mitnahm. Ähnlich äußert sich Friedrich Magirius. Besonders beeindrucken diejenigen, die in ihren Antworten sehr persönlich werden. So konstatiert Ruth Leiserowitz: “Ich stehe in Polens Schuld, denn diese lange, intensive Beziehung zu diesem Land ist eine der wichtigsten Erfahrungen in meinem Leben. Sie hat mir Mut, Hoffnung und Inspiration gegeben. Dank dessen kann ich verschiedene Dinge ganz anders sehen und verstehen als viele meiner Landsleute.” Und für Karin Wolff, die in Polen ihr “Ersatzvolk” fand, war schon nach der ersten Polenreise klar: “Wo ich hingehöre, ist dort, nicht hier.”

Einige der Interviewten äußern sich auch zu den deutsch-polnischen Beziehungen heute. Eine gewisse deutsche Arroganz gegenüber polnischen Befindlichkeiten beobachten sowohl Wolfgang Templin als auch Karin Wolff. Ruth Leiserowitz appelliert, Polen mit mehr Respekt und Lernbereitschaft zu begegnen.

Ungewöhnliche Lebensläufe

Theo Mechtenberg war katholischer Priester, Studentenpfarrer in Magdeburg, ließ sich laisieren, heiratete eine Polin, studierte in Breslau Germanistik und reiste aufgrund eines Einstellungsverbots nach Westdeutschland aus. Seither lebt er in Bad Oeynhausen. Dies ist nur einer von 13 sehr ungewöhnlichen Lebensläufen. Eigentlich hätten alle im Buch Befragten einen Interview-Band für sich selbst verdient. Das trübt ein wenig das Lesevergnügen, denn viele Dinge können nur kurz angesprochen und nicht vertieft werden.

Etwas anstrengend ist es, immer vom “Kriegszustand” zu lesen, offensichtlich hat hier das Lektorat nicht richtig aufgepasst, denn die korrekte Übertragung des polnischen Stan Wojenny ins Deutsche lautet “Kriegsrecht”. “Polen – mein Weg zur Freiheit” ist auch kein wissenschaftliches Werk – das ist einerseits schade, da das Buch ein wichtiges, noch weitgehend unerforschtes Thema behandelt. Andererseits liest es sich deshalb umso leichter und man wird ganz automatisch in den Bann zahlreicher faszinierender Lebensgeschichten gezogen.

Polen – Mein Weg zur Freiheit. Wie Polen die DDR-Bürgerrechtler inspirierte – 13 Gespräche. Herausgegeben von Robert Żurek. Fibre Verlag, 2016, 24 Euro.