Interview zum deutsch-polnischen Dokumentartheater FLUCHT-UCIECZKA

Dokumentartheater Flucht-Ucieczka, Foto: Das letzte Kleinod.

Flucht, das bedeutet auf Polnisch Ucieczka (in Lautschrift [utɕetʃka]). Flucht beschäftigt nicht nur aktuell Europa und die Welt, es ist vielmehr ein trauriges Phänomen, welches die Menschheitsgeschichte durchzieht. Der häufigste Fluchtgrund ist Krieg. Die letzten großen unfreiwilligen Wanderungsbewegungen wurden durch den Zweiten Weltkrieg ausgelöst. In dessen Zuge mussten Millionen von Menschen ihre Heimat verlassen. Das deutsch-polnische Theaterensemble Das letzte Kleinod und Teatr Gdynia Główna begab sich auf Spurensuche durch Europa und befragte ältere Menschen aus Russland, Polen und Deutschland dazu, wie sie als Kind ihre Flucht erlebt haben. Aus den Schilderungen entstand eine Theatervorstellung, die in vier alten Güterwaggons aufgeführt wird und mit der Eisenbahn zu zehn Stationen in Polen und Deutschland fährt. Polen.pl hat die Dramaturgin und die Schauspielerinnen schriftlich befragt.

 

Polen.pl: Was ist „Dokumentartheater“?

Zindi Hausmann (Dramaturgin):

Dokumentartheater bezeichnet eine Arbeitsweise. Die dokumentarische Arbeit besteht darin, Zeitzeugen zu aktuellen oder historischen Themen zu interviewen. Die Texte dieser Interviews werden dann zu einem Theaterstück komponiert. Dokumentarisch sind auch die Orte, an welchen wir spielen. Wir spielen nicht auf Bühnen, sondern suchen uns Orte, die inhaltlich mit dem Thema verbunden sind. Wir spielen zum Beispiel in einem Bunker, wenn es um die Fliegernächte geht. Oder an anderen Orten, an welchen das Erzählte stattfand.

 

Wie reagierten die Menschen in Russland, Polen und Deutschland auf Sie, als Sie sie zu ihren traumatischen Erlebnissen befragten?

Zindi Hausmann:

Wir wurden sehr freundlich und mit Offenheit empfangen. Die Menschen, die wir in diesen Ländern interviewt haben, haben uns sehr traumatische Erlebnisse erzählt. Wir erlebten auch Dankbarkeit dafür, dass wir uns für ihre Geschichten interessieren und sie wertschätzen.

Dokumentartheater Flucht-Ucieczka, Foto: Marzena Chojnowska.

 

Welche Eindrücke haben Sie auf Ihren Recherchereisen gesammelt? Was hat Sie nachhaltig geprägt?

Zindi Hausmann:

Wir waren zum Beispiel in Kaliningrad im alten preußischen Viertel in einer abgebrannten Villa, wo man nachvollziehen konnte, was die ehemaligen Bewohner gesehen hätten, wenn sie wiedergekommen wären. So etwas haben wir auch an anderen Orten erlebt. In einer alten Schule spürte man noch viel von der Geschichte. Ich glaube, das war etwas, was auch für die Schauspieler sehr beeindruckend war: sich zurückzudenken in die Geschichten, die sie gehört haben. Wie es ist, zurückzukommen und alles steht in Ruinen, nichts ist wie es vorher war.

Katja Tannert (Schauspielerin):

Das Treffen mit der russischen Zeitzeugin, hier habe ich Geschichten aus erster Hand erfahren. Die Geschichten erhielten noch einmal ihre eigene Einordnung in den geschichtlichen und geografischen Kontext. Die Atmosphäre eines Herkunftsortes einer deutschen Interviewpartnerin war beeindruckend, ebenso die Schönheit und Unberührtheit der Landschaft – buchstäblich die Flucht aus dem Paradies.

Matylda Magdalena Roźniakowska (Schauspielerin):

Wir wussten bei den Proben nie genau, was auf uns zukommt und das war sehr inspirierend. Ich gebe einmal ein Beispiel: Eines Morgens hieß es: „Zieht euch warm an, wir fahren an die Küste, der Wind ist dort sehr kalt und stark“. Und dann hielten wir vor einem Tiefkühlhaus an, der Regisseur Jens gab uns Mützen, Schals und Handschuhe: „Ihr habt 15 Minuten, um euch für einen Winter bei -20° C vorzubereiten“. Dies war sehr wichtig für den Subtext unserer Szenen, die die Flucht im Winter beinhalten.

So probten wir auch andere Situationen, die mit dem Inhalt der Szenen und den Erzählungen der Charaktere verbunden waren, wie in einem Waldversteck, einem Blaubeergebüsch, in Ruinen und anderen.

 

Wie gelingt es Ihnen, diese Traumata auf künstlerische Weise zu verarbeiten?

Zindi Hausmann:

Uns geht es nicht darum, Traumata zu erzählen oder zu verarbeiten, sondern es geht uns wirklich um die Geschichten. Um den individuellen Menschen, der etwas ganz Besonderes erlebt hat. Ich glaube, dass es den Menschen hilft, darüber zu reden und sich die Stücke anzuschauen und zu sehen: Meine Geschichte ist wichtig, sie muss erzählt werden.

Dokumentartheater Flucht-Ucieczka, Foto: Jens-Erwin Siemssen.

 

Wieso wurde als Kulisse für „Flucht – Ucieczka“ ein Güterzug gewählt?

Zindi Hausmann:

Die Erzählungen sollen an einem Ort inszeniert werden, der wie kein anderer für die Geschichte der Flucht steht. Fast jeder der Zeitzeugen erzählte von tagelangen Transporten auf der Eisenbahn. Das Stück wird deshalb in alten Güterwaggons aufgeführt, die für das Theaterstück von einer slowakischen Bahngesellschaft angemietet wurden.

Gleichzeitig ist der Ozeanblaue Zug auch das Zuhause für die Künstler. Werkstatt und Speisewagen reisen gleichfalls mit.

 

Wie muss man sich eine Theateraufführung in einem Güterzug vorstellen?

Zindi Hausmann:

Es ist eine Theatervorstellung, die nicht nur in den Güterwaggons stattfindet, sondern auch davor. Das Publikum sitzt anfangs draußen und wird später die einzelnen Waggons für Solo-Szenen besuchen.

Katja Tannert:

Die vier Güterwagen dienen als Kulisse, Bühne und Zuschauerraum während des Stückes. Es wird vor, in und auf den Waggons gespielt. Die Waggons selbst als Erlebnisraum bringen dem Zuschauer persönliche Eindrücke von der Flucht in den Zügen näher. Außerdem dienen die Waggons als intimer Erzählort einzelner persönlicher Geschichten.

Dokumentartheater Flucht-Ucieczka, Foto: Marzena Chojnowska.

 

Gibt es auch Aufführungen im fahrenden Zug?

Zindi Hausmann:

Das ist bisher leider noch nicht möglich, weil der Zug nur begrenzt für Personenverkehr zugelassen ist. Der Ozeanblaue Zug wird zwischen den Spielorten transportiert und es ist organisatorisch und infrastrukturell derzeit leider nicht möglich, das Stück im Zug zu spielen. Aber wer weiß, wir entwickeln das Konzept ja immer weiter.

 

Danke für das Interview, Zindi Hausmann, Katja Tannert und Matylda Magdalena Roźniakowska.