Jahrbuch Polen 2019: „Kein Mensch ist so reich, dass er nicht einen Nachbarn brauchte”

Jedes Frühjahr publiziert das in Darmstadt ansässige Deutsche Polen-Institut das Jahrbuch Polen. Dieses Jahr erschien Band 30 unter dem Titel „Nachbarn“. Dabei sollen laut der offiziellen Pressemitteilung weniger die nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Polen und seinen Nachbarländern thematisiert werden, sondern vielmehr die innergesellschaftliche, -kulturelle und -politische Situation in Polen.

Cover Jahrbuch Polen 2019

Betrachten wir zunächst das diesjährige Titelbild: Der polnische Architekt und Maler Tytus Brzozowski fertigte diese Wasserfarbenmalerei an, die an das Warschauer Stadtbild erinnern soll. Die Gebäude besitzen verschiedenfarbige Fassaden, diverse Giebel, Türmchen und Gesimse. Im Zentrum der Werke Brzozowskis stehen jedoch nicht architektonische Raffinessen, sondern die Menschen. In diesem Fall befinden sich die abgebildeten Einwohner auf zu schweben scheinenden Wohnräumen in Würfelform. Die Nachbarn reichen einander die Hand, winken sich zu und beschäftigen sich mit schwarz-weißen Spielwürfeln, die auf dem ganzen Bild verteilt zu sehen sind. So kann funktionierende Nachbarschaftlichkeit aussehen.

 

Wer ist mein Nachbar?

Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis verrät uns, dass das 208 Seiten umfassende Werk aus 16 Texten besteht, die von insgesamt 17 Autoren verfasst wurden. Jeder Text ist ungefähr zehn Seiten lang, was eine angenehme Lektüre ermöglicht. So hat der Leser Zeit, nach jedem Essay über das Gelesene nachzudenken. Die ersten durch das Titelbild gewonnenen positiven Eindrücke scheinen aber nun verflogen. Gleich der erste Beitrag spricht vom „unnachbarschaftlichen“ und „entzweiten“ Polen. Weitere negativ anklingende Schlagwörter in den Titeln sind „Barbaren“, „fremd“, „das N-Wort“, „ausländisch“, „Exodus“, „das Andere“, „Gegensätze“, „verlassen“ und „masakra“. Die 16 Essays blicken textlinguistisch aus verschiedenen Perspektiven auf das diesjährige Schwerpunktthema: Wissenschaftliche Abhandlungen, Erfahrungsberichte, Interviews und historische sowie soziokulturelle Analysen bilden einen holistischen Forschungsansatz mit der Leitfrage „Wer ist mein Nachbar?“.

 

„Die unnachbarschaftlichen Polen”

Die Jahresbuch-Redaktion wünscht am Ende des Vorworts „anregende Lesestunde mit Aha-Erlebnissen“ und bereits die erste von Maciej Gdula verfasste Abhandlung birgt überraschende Fakten. Wussten Sie, dass Polen laut einer von Eurostat 2012 veröffentlichten Kriminalitätsstudie eines der am wenigsten kriminellen Länder der Europäischen Union ist? Die polnische Gesellschaft befindet sich im wirtschaftlichen Aufschwung, aber zwischenmenschlich im Sturzflug. Gdulas These lautet „Damit Nachbarschaft funktioniert, muss man sich darüber klar werden, dass die Menschen um uns herum anders sind als wir selbst. Wir müssen diese Unterschiede als solche akzeptieren“. Polen durchlebt jedoch seit 1945 einen Prozess der soziokulturellen Homogenisierung und die vorhandenen Unterschiede werden nicht positiv zur Annäherung genutzt, sondern zur Schaffung politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Spannungen instrumentalisiert. Wenn sich die polnische Bevölkerung einander mit Misstrauen und Argwohn begegnet, ist das Scheitern eines harmonischen Zusammenlebens in Europa vorprogrammiert.

 

Die polnischen Barbaren

Mit dem polnischen Sprichwort „Od przybytku głowa nie boli“ (auf Deutsch etwa „Viel hilft viel“) ließe sich Ziemowit Szczereks ironisch-überspitzter Beitrag zusammenfassen. Die polnische Gesellschaft therapiere ihren Minderwertigkeitskomplex mit Kitsch, Prunk und Glanz, was jedoch nicht erhaben und edel wirkt, sondern unbeholfen, plump und chaotisch anmutet. Das Land möchte sich beweisen und etablieren. Polen möchte der Westen sein, aber gleichzeitig auch anders (am besten besser): „Das, was wir von euch nehmen, bauen wir so hin, dass es uns gefällt und nicht euch“. Es möchte alles, was es besitzt und (aus dem EU-Haushalt) erhält, zeigen und sich damit rühmen – ob es zusammenpasst oder nicht. Das ist das typisch polnische Chaos.

 

Wer in der Zukunft lesen will, muss in der Vergangenheit blättern

Michał Szułdryński blickt im Gespräch mit Marek A. Cichocki in die Vergangenheit, um die Zukunft zu verstehen. Er beschäftigt sich mit historischen Ereignissen, die die Geschichte Polens und die gegenwärtige Identität Polens definieren. Viel weniger die im 19. und 20. Jahrhundert erstarkte politische Ost-West-Dualität sei entscheidend, sondern die kulturelle Nord-Süd-Achse in Europa. Polen seien „Römer des Nordens“. Polen müsse aufhören, sich anhand deutscher oder russischer Kriterien zu positionieren, sondern sein eigenes Polentum schaffen. Zur Schaffung einer eigenen Identität brauche man einen verstärkten Blick ins Innere, insbesondere da sich extrinsische Leitbilder im Zerfall befinden.

 

Die polnische Diaspora

Piotr Ibrahim Kalwas hat wiederum eine völlig andere Perspektive. Er lebt seit mehr als 8 Jahren in Ägypten, kennt demnach nicht nur die polnische Gesellschaft in Polen, sondern ebenso die Polonia seiner neuen Heimat. Ihm fällt auf, dass die Durchschnittspolen nicht wissen, wie mit der Andersartigkeit umzugehen ist, und teilweise Paradoxien vorhanden sind. In Polen gelten Länder wie Ägypten als Teil der verarmten Dritten Welt, für die in Ägypten lebenden Polen sei „(auf einmal) alles gut” und Ägypten das neue Zuhause, doch ohne dass eine Integration stattfindet. Die polnische Diaspora lebe abgeschottet, da sie sich nicht selten als „vollwertige Europäer” sehen und „mit stolzgeschwellter Brust herum[laufen], wie die polnische Kolonialkompanie auf Madagaskar”. Diese Erfahrungen machte Kalwas nicht nur in Ägypten, sondern auch in anderen Ländern mit polnischen Gemeinschaften. Er bemerkt jedoch auch, dass ebenso die ägyptische Gesellschaft Probleme hat, das Unbekannte und Ungewohnte kennenzulernen und aufzunehmen. In jeder Gesellschaft gibt es einerseits Menschen, die sich kaum für andere Kulturen interessieren, und andererseits die Menschen, die sich um eine Integration bemühen, auch wenn diese nicht immer erfolgreich ist. Es handelt sich um kein polnisches, sondern universelles Problem. Jede Kultur trifft beim Kennenlernen des Anderen auf Hürden: „Wir sind alle fremd”. Kalwas’ Theorien bestätigen sich in Marta Mazuśs Erzählung, wobei es sich um einen inneren Dialog in Briefform handelt: Die polnische Gesellschaft begegnet dem Fremden mit Distanz und Unbehagen, doch sind Mazuśs Ausführungen drastischer. Es wird deutlich, welche auf Stereotypen aufbauenden Kommentare und rassistischen Beleidigungen sich Familien afrikanischer Herkunft in Polen ergehen lassen müssen. Es mag schockieren und ein kontroverses Thema sein, doch macht es dem Leser bewusst, wie wichtig und nötig dieses Thema ist.

 

Wir vs. die Anderen

Jerzy Kochanowski blickt auf die Warschauer Gesellschaft unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Zahlreiche Nationalitäten – Polen, Deutsche, Sowjets, Italiener, Franzosen, Jugoslawen, Spanier, Griechen, Mazedonier – lebten größtenteils gezwungenermaßen in Warschau, ein nachbarschaftliches multinationales Zusammenleben konnte im Laufe der letzten Jahrzehnte nicht erreicht werden. Katarzyna Kajdaneks Ausarbeitung spricht vom Ausbleiben eines multikulturellen Miteinanders in der Großstadt Wrocław am Beispiel der ukrainischen Bevölkerung. Trotz einer relativ aufgeschlossenen Gesellschaft, fällt es den Breslauern schwer, „die Anderen” aufzunehmen und ihnen Raum zu geben. Katarzyna Kubisiowska thematisiert ebenso das in den Städten zu beobachtende Aneinandervorbeileben der Kulturen. Dem Gegenteil, dem Leben auf dem Land, verschreiben sich Jan Opielka und Andrzej Draguła. Auch hier kommt es zu Spannungen, in erster Linie zwischen Alteingesessenen und zugezogenen Stadtmenschen, die es entgegen der weltweit zu beobachtenden Landflucht in die Dörfer zieht, sowie Gläubigen und weniger religiösen Bewohnern.

Wie Kochanowski nimmt Johanna Tokarska-Bakir in ihrem Essay einen historischen Blickwinkel ein, jedoch mit Schwerpunkt auf die Negativentwicklung der polnisch-jüdischen Beziehung seit dem 18. Jahrhundert. Der Fotograf Mikołaj Grynberg greift in seinen Gesprächen ebenso die Erfahrungen der Juden in der modernen polnischen Gesellschaft auf. Joanna Barelkowska widmet sich der Stellung der Frau in der polnischen Gesellschaft und nimmt den „schwarzen Protest” 2016 als Ausgangspunkt für einen Kampf der Frauen gegen die von Männern dominierte Politik und für die Gleichheit der Geschlechter.

 

Das deutsch-polnische Verhältnis: Gdyby nie te der, die, das, to by byli Niemcy z nas?

In einem polnischen, in Deutschland erschienenen Buch darf auch das deutsch-polnische Verhältnis nicht zu kurz kommen: Felix Ackermann fasst seine Beobachtungen als seit 25 Jahren in Polen lebender Deutsche mit dem Ausruf „Ale masakra!“ zusammen. Er spürt die sozialen Differenzen und den politischen Druck in der polnischen Gesellschaft, doch auch die deutsch-polnische Beziehung ist von Spannungen und Misstrauen geprägt. Einen umgekehrten Blick auf das deutsch-polnische Verhältnis wirft die in Berlin lebende Polin Ewa Wanat. Sie spricht von den „Deutschen und ihre[n] Tabus“, der nicht immer gelungenen Integration von Ausländern und den allgemeinen „Wehwehchen“ der deutschen Gesellschaft.

 

Fazit

Das Jahrbuch Polen 2019 behandelt das Thema Nachbarschaft ausführlich und vielschichtig aus inländischer und ausländischer Sicht, aus der Perspektive von sowohl Polen als auch Nichtpolen. Es geht um das polnische Verständnis von Nachbarschaftlichkeit: Wie verstehen sich Polen untereinander und wie verstehen sich Polen mit Ausländern, die in Polen ihre neue Heimat gefunden haben? Wie offen treten sie einander gegenüber? Wie viel Vertrauen und Engagement zeigen sie? Auch deutsch-polnische, europäisch-polnische und jüdisch-polnische Verhältnisse und Spannungen zwischen Männern und Frauen sowie Stadt- und Dorfbewohnern werden kritisch aufgearbeitet. Mir gefallen die kurzen Episoden und die Vielfalt eingesetzter Textsorten: persönliche Geschichten, objektive Berichte, emotionale Erzählungen und rationale Analysen. (Funktionierende) Nachbarschaft ist ein zeitloses und gleichzeitig äußerst aktuelles sowie bedeutsames Thema im Kontext der vergangenen Europawahlen und der im Herbst anstehenden Parlamentswahlen in Polen. Ein winziger Kritikpunkt soll aber genannt werden: Das Buch ist (mir) zu pessimistisch. Eine kritische Auseinandersetzung mit der (anscheinend fehlenden) Nachbarschaftlichkeit in der polnischen Gesellschaft sollte auch positive Aspekte aufgreifen, die zweifellos vorhanden sind. Polen sind nun einmal unter anderem auch für Ihre Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft und ihren ergebnisorientierten Pragmatismus bekannt.

Insgesamt ist die Reihe der Jahrbücher des Deutschen Polen-Instituts lesenswert und auch für das Jahrbuch Polen 2019 spreche ich eine Leseempfehlung aus, sowohl für Polenkenner als auch für die, die es werden wollen.

Bestellen kann man das Buch über das Deutsche Polen-Institut beim Harrassowitz-Verlag.

Jahrbuch Polen 2019: Nachbarn (Band 30)
Deutsches Polen-Institut, Darmstadt
Harrassowitz Verlag Wiesbaden
Erscheinungsdatum: 2019, Seiten: 208, ISBN: 978-3-447-11212-3, Preis: 15,00 €