Polen in Westsibirien – ein Erlebnisbericht

Für eine Feldforschung über Deutsche in Russland begab ich mich im Frühling 2015 für drei Monate nach Barnaul, in die Hauptstadt des Altaigebietes in Westsibirien. Schnell fand ich heraus, dass die Stadt multikulturell und multikonfessionell geprägt ist und noch heute verschiedene Minderheiten beherbergt. Darunter auch eine polnische.

Besuch in der katholischen Kirche Barnaul

Aufmerksam auf die Barnauler Polonia – so werden im Ausland lebende Polen gemeinhin genannt – wurde ich, als ich die römisch-katholische Kirche entdeckte. Ein repräsentativer, roter Backsteinbau mit gut sichtbarem Banner – recht zentral gelegen und mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar. Ich erfuhr, dass der Geistliche Pole ist und auch die Gemeindemitglieder teilweise aus Polen stammen. Schnell war der Entschluss gefasst, eine Messe zu besuchen.

Katholische Kirche Barnaul, Foto: Polen.pl (AF)

Der Sonntagmorgen im Mai 2015 ist schön sonnig, aber noch recht frisch. Die Messe hat bereits angefangen, als ich in der Kirche eintreffe. Die Kapelle macht einen im Vergleich zum Gesamtgebäude recht kleinen Eindruck. Ungefähr ein Dutzend Bänke stehen hintereinander. Das Dekor ist vergleichsweise schlicht: An den Wänden ist Jesu Kreuzigungsweg abgebildet und hängen Marienbildnisse; es gibt einen kleinen Altar und ein goldenes Kreuz. Der Priester predigt auf Russisch, mit wunderbar polnischem Akzent. Wie ich beim anschließenden Teetrinken erfahre, lebt er seit zehn Jahren in Westsibirien. Kurioserweise schließt der Priester damals auch die kurz bevorstehenden polnischen Präsidentschaftswahlen in seine Gebete ein: Er betet „für einen guten Präsidenten für Polen“. Wie wir inzwischen wissen, dürfte er mit dem Ergebnis zufrieden sein.

Die Gemeinde ist bunt gemischt, erzählt eine Besucherin beim anschließenden Teetrinken. Sie besteht aus Italienern, Deutschen, Polen, Litauern, Letten und Armeniern. Ihr Mann sei Lette und katholisch gewesen. Seit seinem Tod komme sie hierher, obwohl sie selbst russisch-orthodox sei. Ein polnischstämmiger Barnauler begrüßt mich auf Deutsch und erzählt mir auf Russisch von dem Polnischen Haus in Barnaul. Auf ein Neues ist meine Neugier geweckt. Er gibt mir die Nummer der Vorsitzenden des Kulturzentrums.

Wie Polen nach Sibirien kamen – und blieben

Wenige Tage später treffe ich Pani Wanda für ein Interview. Sie ist sehr neugierig, wie es denn käme, dass ich mich für die polnische Minderheit in Russland interessiere. Noch erstaunlicher findet sie, dass ich über sie auf Deutsch berichten will. Zu diesem Zweck steckt sie mir diverse Flyer in Russisch und Polnisch über ihren Kulturverein zu. Doch eins nach dem anderen.

Wieso gibt es eigentlich in Barnaul eine offensichtlich historisch bedingte polnische Minderheit? Pani Wanda klärt mich auf. Im Folgenden fasse ich zusammen, was sie mir bei unserem Gespräch erzählt hat. Die Geschichte von Polen in Sibirien begann vor 400 Jahren. Die ersten 60 Polen sind im Rahmen des polnischen Januaraufstandes 1863 gekommen. Als Soldaten, Wissenschaftler und Reisende verliebten sie sich in das „wilde Land“, blieben und trugen u.a. als Eisenbahner, Bergbauer und Ärzte zur Zivilisierung und Entwicklung dieser Region bei.

Laut der letzten Volkszählung von 2010 leben 600 Personen in Barnaul, die sich zu ihrer polnischen Herkunft bekennen. Dichtere, zahlenmäßig stärkere Ansiedlungen gibt es vor allem im europäischen Teil und im Fernen Osten Russlands. Von den Statistiken darf man sich jedoch nicht täuschen lassen: Viele Barnauler tragen polnische Nachnamen, sind sich aber ihrer polnischen Herkunft nicht bewusst. In der gefährlichen Sowjetzeit haben viele Familien ihre Herkunft verleugnet und sich assimiliert.

Das “Polnische Haus”

Geographische Lage Barnaul, Foto: google maps

Die Gründung des Polnischen Hauses nahm 1994, in der Zeit der Perestroika (Neugestaltung des sowjetischen politischen Systems), ihren Anfang. Ab da wurde es möglich, nationale Organisationen zu gründen. In der jetzigen Form mit Pani Wanda als Vorsitzender und nach Ausweitung auf regionaler Ebene firmiert der Kulturverein seit 2009 unter dem Wortungetüm „Altaier Regionale Kulturell-Aufklärerische Gemeinschaftliche Organisation Polnisches Haus“. Nichtsdestotrotz gibt es keine feste Begegnungsstätte. Die Barnauler Polonia trifft sich privat, in Bibliotheken und Universitäten. Ungefähr zeitgleich mit dem fünften Jubiläum feierte man 20 Jahre „Wiedergeburt der Polonia im Altai“.

Das Polnische Haus agiert ehrenamtlich. Die polnische Regierung unterstützt den Kulturverein mit einem Materialzuschuss. Miete für ein Haus ist derzeit nicht vorgesehen. Insgesamt gibt es in 50 russischen Städten derartige polnische Organisationen, die sich regelmäßig untereinander austauschen. Der Barnauler Verein zählt 50 aktive Mitglieder. Die Sprachkurse und Veranstaltungen werden aber auch von weiteren, nicht erfassten Neugierigen und Interessenten besucht.

Ziel des Polnischen Hauses ist es, Menschen mit polnischer Identität zusammen zu bringen und ihnen Kenntnisse der Sprache, Kultur und Geschichte Polens zu vermitteln. Pani Wanda bietet kostenlosen Polnischunterricht an, nachdem sie sich eigens dafür in Lublin entsprechend qualifiziert hat. Zu den Aktivitäten des Polnischen Hauses gehören auch gemeinsame Reisen nach Polen. 2013 sind zum Festival der polnischen Kultur in Barnaul 400 Besucher gekommen. Viele würden sich aus sowjetischer Zeit noch an Austauschreisen sowie Kontakte mit polnischen Waren, Büchern und Musik erinnern. Daher sind unter den Besuchern nicht nur Angehörige der polnischen Minderheit. Mit anderen Minderheiten in Barnaul tauscht man sich z.B. am Russland-Tag am 12. Juni aus. Dann präsentieren sie einander und Passanten ihre nationalen Kostüme und Gerichte. Man lädt sich gegenseitig zu Veranstaltungen ein, wird aber nicht gemeinsam aktiv.

Polnische gesetzliche Feiertage werden von der Barnauler Polonia gemeinsam begangen. Am 3. Mai, dem Tag der polnischen Verfassung, haben die Vereinsmitglieder kleine Vorträge zu polnischer Geschichte, der Flagge und zu Legenden auf Polnisch gehalten. Ein Film wurde gezeigt und eine Tanz- und Gesangsgruppe trat auf. Auch wenn die meisten Polnischstämmigen nun orthodoxen Glaubens sind, pflegt man Kontakt mit der katholischen Kirche.

Pani Wanda offenbart mir, sie fühlte sich schon immer als Polin, auch wenn ihre Herkunft in der Familie nicht kommuniziert wurde. Mit 14 Jahren hat sie begonnen, Polnisch zu lernen. Mindestens einmal im Jahr reist sie nach Polen. Pani Wanda hat eine Schwäche für polnische Trachten. Diese lebt sie im Rahmen des Kulturvereins im „Club der polnischen Mode“ aus. Vielen Dank für die persönlichen Eindrücke und den Einblick in die kleine Barnauler Polonia, Pani Wanda!

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