Warschau – der schlummernde kleine Riese

von Antoni Wladyka

Wenn Sie Ihre Augen schließen und Ihrer Fantasie freien Lauf lassen – an was denken Sie, wenn Sie sich Warschau vorstellen sollen? Da kommt nicht viel zusammen, oder? Aber keine Sorge, mit Ihrem Fantasiespektrum im Gehirn ist alles in Ordnung. Vielmehr ist Warschau selbst Schuld an der Misere, dass die Stadt aus touristischer Sicht noch nicht ganz an das internationale Netz angeschlossen ist. Die polnische Hauptstadt hat es noch nicht in die Köpfe potenzieller Touristen geschafft, aber holt die verlorene Zeit schnell wieder ein. Dieser Beitrag soll zeigen, dass in dieser Stadt unglaublich viel Potential steckt und dass sie mit veralteten Bildern zu kämpfen hat.

 

Warschau – Warszawa – „Wawa“

Auf Polnisch nennt sie sich die größte Stadt Polens Warszawa, was für die meisten Warschauer und Polen viel zu lang ist. Deshalb benutzt man gerne die Kurzform „Wawa“. Die Stadt ist inoffiziell seit dem Ende des 16. Jahrhunderts die polnische Hauptstadt oder vielmehr die königliche Residenz. Erst die erste europäische Verfassung vom 3. Mai 1791, welche in Warschau geschrieben wurde, nahm Krakau diesen ehrenvollen Titel weg.

 

Die Tradition der Aufständischen

Doch schon 1795 ist Polen von der politischen Landkarte verschwunden und erst 1918 wieder aufgetaucht. In der Zwischenzeit versuchten viele Generationen ihre verlorene Freiheit zurückzugewinnen. Die zwei größten polnischen Aufstände im 19. Jahrhundert von 1831 und 1863 begannen beide in Warschau. Die Aufopferungsbereitschaft der Warschauer wurde vor allem beim Warschauer Aufstand von 1944 auf die Probe gestellt. Diese 63 Tage haben eine solche Narbe hinterlassen, dass man glauben mag, dass der Aufstand erst gestern zu Ende gegangen ist. Diese Aufstände gingen alle fehl, doch wurde Warschau dadurch zum wahren Anführer unter Polens Städten. Die Warschauer kämpften zudem nicht, weil sie unfrei waren, sondern weil sie frei waren und Freiheit verpflichtet.

 

Eine faszinierende Geschichte

Die Geschichte Polens ist stark beeinflusst worden von den Ereignissen einer Stadt, die zu den jüngsten in Polen gehört. Hier fanden seit 1573 die weltweit einzigen „demokratischen“ Wahlen eines Königs statt, hier wurde mit der Warschauer Konföderation 1573 eine Religionsfreiheit eingeführt, von der Europa nur träumen konnte und hier schließlich befand sich das Epizentrum eines Reiches, dessen Einflussgebiet im Jahre 1610 auch Moskau einschloss. Nach der Goldenen Zeit folgte, wie oben beschrieben, der Kampf ums Überleben.

 

Die dunkle Zeit

Der Kulturpalast aus ungewöhnlicher Perspektive, Foto: Polen.pl (AW)

Warschau tut sich jedoch sehr schwer mit der Löschung des Stadtbildes, welches nach dem 2. Weltkrieg bis tief in die 90er Jahre die Vorstellungen der Menschen auf der Welt prägte. Der einsam stehende Wissenschafts- und Kulturpalast von 1955 war so ziemlich die einzige Sehenswürdigkeit der Stadt. Dafür unternahm niemand freiwillig eine Reise ins Ungewisse. Zudem lag die Stadt für viele sinnbildlich in Sibirien. Krakau und Danzig hingegen profitieren bis heute von der Anfangsphase des polnischen Tourismus nach 1990 und müssen ihr Stadtprofil nur noch aufrechterhalten.

 

Ein Boom ohne seinesgleichen

Die Stadt hatte es nach dem 2. Weltkrieg nicht so leicht, da von ihr nicht wirklich viel übriggeblieben ist. Nur so lässt sich die späte Zündung der Entwicklung erklären.

Heute steht nichts mehr im Wege und was nun in Warschau passiert, verdient gehörigen Respekt. Die Denkmäler wurden und werden immer noch schön herausgeputzt, die rekonstruierte Altstadt ist ein Paradebeispiel, wie man zerstörte Altstädte auf der Welt aufbauen sollte, das Museum der Geschichte der Polnischen Juden auf dem Gebiet des ehemaligen jüdischen Ghettos wurde 2016 zum besten Museum Europas gekürt, die Flaniermeilen Krakowskie Przedmieście und Nowy Świat haben sich zu Prachtstraßen auf europäischem Niveau entwickelt und die Warschauer Skyline nimmt mehr und mehr Gestalt an. 2012 wurde das höchste Wohnhaus Europas, „Zlota44“, fertiggestellt und im Herbst 2016 beginnt der Bau des höchsten Gebäudes in der Europäischen Union, das am Ende 310 Meter in die Höhe ragen wird.

 

Vom Chopin-Airport in die Welt

Während der Warschauer Flughafen vor 10 Jahren hauptsächlich europäische Städte anflog, kommt man nun ohne Zwischenlandung nach New York, Dubai, Peking, Seoul oder Tokyo. Die breiten Straßen und die großzügigen Grünflächen zwischen den Plattenbauten, die ein Symbol kommunistischen Baustils sind, erweisen sich nun unerwartet hilfreich. Autobahnbreite Strassen in der Innenstadt einer Metropole mit mehr als 2,5 Millionen Einwohnern – davon träumt man nur in Rom, London oder Paris.

Dieser Bauboom ist zugleich Antriebsmotor für die Gastronomie, Dienstleistungen und Kultur. Es wird immer schwieriger Warschau in nur 1,7 Tagen zu entdecken. So lange beträgt nämlich die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der ausländischen Touristen. Dass es jährlich über 3,5 Millionen sind, hat die Stadtverwaltung selber sehr erstaunt. Und dabei ist das erst der Anfang.

 

Zeit zum Aufwachen

Blick von der Weichsel auf das Nationalstadion Foto: Polen.pl (AW)

Noch schlummert er, der kleine Riese. Es gibt nämlich noch viel zu tun. Noch ist der Stadtring nicht fertig, die U-Bahn hat die Stadtränder noch nicht erschlossen und die Warschauer wissen noch nicht sicher, welchen Charakter sie ihrer Stadt verleihen wollen. Zumindest sind sich alle einig, dass man von ihnen viel Aushaltevermögen abverlangen wird.

Warschau quält sich also noch etwas mit den veralteten Bildern seiner selbst. Es bleibt abzuwarten, wann auch Sie die Augen schließen und das schöne Bild vor Augen haben, wie Sie an der königlichen Weichsel sitzen, einen kühlen Mojito trinken und den Ausblick auf das Nationalstadion und die Poniatowski-Brücke genießen.