Sieben Fragen an Carsten Wolf zum Ostsee-Tourismus in Polen

Anfang 2013 begann sie: Unsere Interviewreihe zum Tourismus in Polen. Wir sprachen bereits mit Reiseleitern, Hoteliers und einem Kurreiseveranstalter. Heute haben wir erneut einen anerkannten Tourismusexperten für Polen für unser Gespräch gewinnen können. Carsten Wolf ist Geschäftsführer der Travel-Netto Sp. z o.o mit Sitz in Kolobrzeg (Kolberg), die sich vor allem auf Touristen aus Deutschland spezialisiert hat. Somit repräsentiert der gebürtige Offenbacher und heutige Berliner Carsten Wolf ein polnisches Touristikunternehmen für den deutschen Markt. Bevor er zu Travel-Netto stieß, beschäftigte er sich im Studium mit Soziologie und der tschechischen Sprache und arbeitete als Rettungsassistent, in der Krankenpflege und als Disponent in Rettungsleitstellen. Erfahrungen im Tourismus sammelte er seit seiner Fortbildung zum Touristikassistenten im Jahr 2003. Er wirkte als Optimierer, Aufbauer und Sanierer von Unternehmen. Besonders Kurgästen in Kolberg, aber auch vielen anderen Ostseebesuchern dürfte die von ihm vertretene Firma mit dem markanten Sonnenblumenlogo und dem kräftigen Orange auf allen Katalogen und der Internetseite bekannt sein. Wir freuen uns auf das Gespräch.

Polen.pl: Herr Wolf, befindet sich Ihr Büro in Kolberg oder in Deutschland?

Carsten Wolf:  Das Büro von Travel-Netto befindet sich in Kolberg und alle Anrufe gehen auch in Kolberg ein. Wir sind ein vollständig polnischer Reiseveranstalter, arbeiten aber exakt wie ein deutsches Unternehmen. Ich selbst wohne in Berlin und erledige einiges von meinem Arbeitszimmer aus. Im Bereich von Marketing und Internet, Programmierung und Druck arbeiten für uns fast ausschließlich deutsche Unternehmen, vor allem, weil sie meist günstiger sind.

Polen.pl: Travel-Netto hat – das ist zumindest unsere Wahrnehmung – in den vergangenen Jahren eine enorme Steigerung der Bekanntheit erfahren. Meine erste Frage: Ist das so und wie messen Sie so etwas? Die zweite: Wie ist das gelungen? Und die dritte: Spiegelt sich das in Ihren Kundenzahlen wider?

Die Kundenbetreuung von Travel-Netto in Kolobrzeg (Kolberg), Foto: Travel-Netto.

Carsten Wolf: Das sind ja mehrere Fragen in einer (lächelt). Ich fange mal mit der letzten an: Wir haben in den letzten vier Jahren die Gästezahl verfünffacht und gehen eigentlich davon aus, dass wir für den individuellen deutschen Touristen an der polnischen Ostseeküste der Marktführer sind. Und unser aktuelles Wachstum im Vergleich zum Vorjahr liegt bei 30 Prozent. Unsere Bekanntheit hat sich in meiner Wahrnehmung vor allem in den letzten zweieinhalb Jahren stark gesteigert. Wir waren selbst überrascht, als wir bei Internetanalysen festgestellt haben, dass unser Firmenname täglich rund 120 Mal bei Google gesucht wird.
Wenn Sie mich nach den Erfolgsfaktoren fragen, dann fallen mir mehrere ein: Zum einen arbeiten wir permanent an Verbesserungen und am Mehrwert für unsere Kunden, der über die pure Buchung einer Reise hinausgeht – also zum Beispiel geben wir eigene touristische Landkarten heraus, betreiben einen werbefreien Online-Reiseführer, betreiben eine Gäste-Information, erarbeiten Reiseführer, Insider-Tipps, beraten im Online-Forum und machen alles, was arbeitsintensiv ist. Der zweite große Faktor ist, dass wir auf die blumige Tourismussprache mit ihren hohlen Verkaufsphrasen verzichten. Wir sagen unseren Kunden, wie es ist: Vor Ort, im Hotel, in der Umgebung. Authentizität und Ehrlichkeit sind für mich dabei die höchsten Werte. In unseren Beschreibungen ist das Zimmer eher mal ein paar Quadratmeter kleiner, der Strand weiter weg und die Ausstattung weniger umfangreich als in der Realität. Gleichzeitig geben wir ganz detaillierte Auskünfte zu allem, was den Gast vor Ort erwartet. Und das honorieren die Gäste. Das günstigste Marketing für uns ist die Weiterempfehlung unserer Stammkunden.

Polen.pl: Die polnische Ostseeküste ist erklärtermaßen das Hauptzielgebiet der Kunden Ihres Unternehmens. Zugegeben: Es ist schön an der polnischen Ostsee. Aber gibt es nicht auch andere Regionen, die einen Urlaub in Polen wert sind? Warum diese Spezialisierung?

Carsten Wolf: Polen ist eines der schönsten Urlaubsländer das ich kenne und am liebsten würde ich die Nationalparks an der weißrussischen Grenze genauso anbieten, wie Bieszczady oder die Hohe Tatra. Wir haben in den letzten Jahren einiges versucht, um andere Regionen anzubieten. Bei allen unseren Versuchen sind die anderen Regionen nie über einen Anteil von drei Prozent an unseren Buchungen gekommen – bei einem Kostenanteil von fast 20 Prozent. Das war also eigentlich nur eine betriebswirtschaftliche Entscheidung. Die Nachfrage ist für fast alle anderen Regionen zu gering. Lediglich Bad Flinsberg entwickelt sich seit zwei Jahren zu einem zweiten kleinen Zielgebiet für uns.

Polen.pl:  Kann Polen touristisch noch expandieren, also die Zahl der Urlauber steigern? Und überhaupt, wohin sollte diese expansive Entwicklung gehen. Polen hat ja nun weder immer Sonne, noch spektakuläre exotische Besonderheiten zu bieten. Wo liegen aus Ihrer Sicht Chancen der Weiterentwicklung des Tourismus?

Carsten Wolf: Im Vergleich zu anderen Nachbarländern hat Polen vielleicht 15 Prozent seines Potenzials für den Quellmarkt Deutschland ausgeschöpft. Ich denke, viele Regionen Polens werden noch expandieren, vor allem im innerpolnischen Tourismus. Für Deutschland ist das allerdings abhängig von der Erreichbarkeit über Autobahnen. Entlang der Autobahnen, zum Beispiel nach Krakau, wird sich der deutsche Tourismus entwickeln. Auch an der Ostseeküste erwarte ich noch eine längere Wachstumsphase, allerdings wohl eher nicht im Bereich der klassischen Kururlauber.
Polen bietet wunderbare Natur, sehr herzliche Menschen, eine nicht-überkandidelte Atmosphäre und vor allem lebendige und nicht ausgestorbene Landschaften.
Fast alle klassischen touristischen Infrastrukturen können noch entwickelt werden: Wegweiser-Systeme und rein am Touristen ausgerichtete Freizeit- und Konsumangebote. Hier liegt das Hauptpotential für die Zukunft. In weiten Teilen der Ostseeküste zum Beispiel gibt es außerhalb der Hauptsaison weder kulturelle Angebote, Sportangebote, noch interessante Einkaufsmöglichkeiten, von einer Therme oder Erlebnisbädern ganz zu schweigen. Da steckt das Potential.

Polen.pl: Erlauben Sie die Frage, wo Sie die größten Hürden beim weiteren Ausbau des ‚Reiselandes Polen‘ sehen. Was nervt Sie am meisten, was hindert Sie bei Ihrer Arbeit?

Carsten Wolf: Die größte Hürde ist immer noch der Versuch von touristischen Einkäufern, Polen auf die Rolle als Billig-Urlaubsland festzunageln. Ich höre ständig vom Druck deutscher Reiseveranstalter bei Vertragsverhandlungen auf die Hotels, noch billiger zu werden. Die Unkenntnis der Hotels über den deutschen Markt wird dazu genutzt, um auch noch den letzten Cent Wertschöpfung aus dem Hotel zu ziehen, mit der Konsequenz, dass die Qualität sinkt und die Mitarbeiter zu menschenunwürdigen Dumpinglöhnen arbeiten müssen. Darüber ärgere ich mich wirklich. Wir raten guten Hotels häufig, ihre Preise für alle Marktteilnehmer gleichmäßig und beständig zu erhöhen und parallel dazu die Qualität zu verbessern und Mehrwert für den Kunden zu schaffen. Nur das halte ich für nachhaltig.
Schade ist, dass von den meisten polnischen Gebietskörperschaften wenig vernünftige Projekte für die touristische Infrastruktur durchgeführt werden.
Das mich etwas hindert an der Arbeit möchte ich allerdings nicht sagen: Wir sind ja kein Spielball der Geschehnisse – mit Engagement und Phantasie können wir unsere Arbeit und Erfolge ja selbst gestalten – jammern ist nicht so meine Sache.

Polen.pl: Kolberg ist wohl einer der bekanntesten polnischen Urlaubsorte in Deutschland. Travel-Netto hat dort den Firmensitz und auch eine Art Fremdenverkehrsinformation für deutsche Gäste. Wäre es erstens nicht eigentlich eine Aufgabe der Stadt, eine Tourismusinformation zu betreiben? Warum hat Ihr Unternehmen diese Einrichtung geschaffen, in der auch deutschsprachige Bücher, Zeitungen und Informationsmaterialien angeboten werden? Und: Übertreibt es Kolberg nicht allmählich mit dem Bau immer neuer großer Hotels?

Die Travel-Netto-Internetseite, Foto: Screenshot.

Carsten Wolf:  Es soll in Kolberg auch eine städtische Tourist-Information geben. (lacht) Aber Spaß beiseite: Wir wollen, dass unsere Gäste nicht wegen niedriger Preise nach Kolberg kommen, sondern weil sie einen schönen Urlaub verbringen möchten. Dazu gehört, dass sich Touristen die Stadt erschließen können, dazu gehört es, sich ein Buch kaufen zu können, dazu gehören Information zur Geschichte und vor allem zu allen Ausflugs- und Freizeitmöglichkeiten. Wir haben die Gästeinformation eröffnet, um für unsere Gäste eine Anlaufstelle zu schaffen für alle Fragen des Urlaubs und für Tipps und Auskünfte. Weil auch ich persönlich in meinem Urlaub erwarte, dass es so etwas gibt. Nebenbei bedienen wir auch alle anderen Kolberggäste, die in unsere Information kommen.
Zu Ihrer zweiten Frage: Ich habe selbst nicht geglaubt, dass es irgendwann genug Gäste für die vielen neuen Hotels geben würde. Jetzt, rund drei Jahre nach dem Boom, arbeiten die neuen Vier-Sterne-Hotels aber immer erfolgreicher. Gleichzeitig gibt es so gut wie keine neuen Projekte. Zuletzt wurden das Hotel Baltic Plaza Spa und das Hotel Olymp III eröffnet. Neue größere Projekte sind mir nicht bekannt.
Der Boom der letzten Jahre ging aber zu Lasten kleinerer, weniger komfortabler Häuser oder der Häuser ohne Hallenbad. Aber so ist der Lauf in wohl jeder touristischen Destination. Ich könnte Ihnen zehn Hotels aufzählen, die fast ganzjährig leer stehen oder sich nur noch zu absoluten Dumping-Preisen verkaufen können.
Für die Zukunft denke ich, dass vor allem ein paar große Urlaubsressorts mit Kinderanimation und Erlebnisbädern der Region gut tun würden.

Polen.pl: Sie, Herr Wolf, sind im Online-Bereich sehr aktiv. Als Berater auf der eigenen Internetseite, aber auch mit einem Reiseblog, als Auskunftgeber bei Portalen wie Reisefrage.net und in den sozialen Medien. Macht Ihnen das nur Spaß oder ergibt sich das aus Ihrem Interesse für die Verständigung zwischen Polen und Deutschland oder versprechen Sie sich daraus Vorteile für Travel-Netto? Ist die Internetbuchung und die Internetberatung die Zukunft auch für das Reiseland Polen? Und überhaupt: Wo sehen Sie Polen als Urlaubsziel in zehn Jahren?

Carsten Wolf: Das ist ja kein Widerspruch: Mir macht die Verständigung zwischen Polen und Deutschland Spaß und ich sage gerne meine Meinung zu Themen, unabhängig von geschäftlichen Interessen. Darüber hinaus bin ich davon überzeugt, dass man nicht ständig auf den direkten geschäftlichen Erfolg schauen sollte, wenn man im Internet aktiv ist. Nichts ist langweiliger, als wenn man in Texten, Beiträgen und auf Blogs schnell erkennt, dass es nur um Kundenfang geht. Ich möchte Kunden so viel objektive Information wie möglich bieten. Wenn wir damit überzeugen, online wie offline, wird der Kunde vielleicht auch bei uns buchen und wenn nicht jetzt, dann die nächste Reise.
Das Internet ist die Zukunft aller Märkte. Die Internetbuchung wird also immer wichtiger, bedeutender ist aber die Beratung. Eine reine Buchungsmaschine ist doch wenig attraktiv. Wenn mich aber jemand kompetent berät, dann beeindruckt mich das. Das kann online oder offline sein. Durch das Internet wollen Kunden zudem immer mehr wissen. Mir gefällt das eigentlich gut.
Polen als Reiseziel in zehn Jahren, das sind idyllisch gelegene Hotels und Ferienanlagen, viele interessante und vor allem professionelle touristische Angebote in den Zielorten, fairere Löhne als heute und gleichzeitig die selbe Kinder- und Menschenfreundlichkeit wie heute. Die städtische Kultur wird selbstbewußter sein und das Land ein selbstverständliches Urlaubsziel für Deutsche, ähnlich wie Österreich oder Frankreich.

Polen.pl: Herr Wolf, herzlichen Dank für das Gespräch. Sie haben uns sehr viele interessante Impulse für die weitere Diskussion gegeben und die Probleme klar beim Namen genannt – dafür vielen Dank. Wir würden uns freuen, sie gelegentlich hier wieder zu Themen befragen zu können und wünschen Ihnen für die weiteren Aufgaben viel Erfolg.
Weitere Informationen zu Travel-Netto: www.travelnetto.de

Dieses Interview wurde in Kooperation mit der Xing-Gruppe Reiseland Polen durchgeführt. Das Interview führte Jens Hansel.